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Poesie: Attar |
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Poesie: Attar- Manteq-ot-teir |
Manteq-ot-teir,
die "Vogelgespräche"; es berichtet von der Reise der dreißig Vögel durch die
sieben Täler zum Simorgh, anbei Auszüge:
Die sieben Täler
Das erste Tal, das sich darbietet, ist das Tal des Verlangens, nach ihm kommt
das der Liebe, das keine Grenze hat, das dritte ist das der Erkenntnis, das
vierte das der Selbstgenügsamkeit, das fünfte das der reinen Einheit, das
sechste das der Bestürzung, das siebente endlich ist das Tal der Auflösung und
der Vernichtung, über das hinaus du nicht fortschreiten kannst. Da wirst du dich
angezogen fühlen und wirst doch nicht weiter ziehen können; ein einziger
Wassertropfen wird für dich wie ein Meer sein.
1. Das Tal des Verlangens
وادی طلب
Sobald du in das Tal des Verlangens eingetreten bist, wird hundertfache Pein
dich wieder und wieder überfallen. In jedem Augenblick wirst du da hundert
Prüfungen erfahren; der Papagei des Firmaments ist da nur eine Fliege. Du wirst
viele Jahre in diesem Tale in mühevoller Spannung und steter Wandlung deines
Zustands verbringen. Du wirst deine Schätze verlassen und alles was du besitzest
ins Spiel werfen müssen. Du wirst in einem Blutstrom schreiten müssen, dem
Allverzicht ergeben.
Und hast du die Gewissheit gewonnen, dass du nichts mehr besitzest, musst du
noch dein Herz ablösen von allem was ist. Ist es von allein Anblick der
Sonderung befreit, dann leuchtet ihm die göttliche Herrlichkeit auf und durch
dieses Licht, das sich dir offenbart, wächst dein Begehren ins Unendliche.
2. Das
Tal der Liebe
وادی عشق
Um hier einzutreten, muss man ganz in Feuer
tauchen, ja man muss selber Feuer sein, denn sonst könnte man da nicht leben.
Der wahrhaft Liebende muss dem Feuer gleich sein, entflammten Angesichts,
brennend und ungestüm wie das Feuer. Um zu lieben, darf man keinen
Hintergedanken haben; man muss bereit sein, hundert Welten ins Feuer zu werfen;
man muss weder Glauben noch Unglauben kennen, weder Zweifel noch Zuversicht
hegen. Auf diesem Wege ist kein Unterschied zwischen Gut und Böse; wo die Liebe
ist, sind Gut und Böse entschwunden...
In diesem Tale ist die Liebe das Feuer und sein Rauch ist die Vernunft. Wenn die
Liebe kommt, entflieht die Vernunft in Eile. Die Vernunft kann mit der Raserei
der Liebe nicht zusammenwohnen; die Liebe hat nichts zu schaffen mit der
Vernunft des Menschen. Gewännest du einen rechten Blick der unsichtbaren Welt,
dann erst vermöchtest du zu erkennen die Quelle der geheimnisreichen Liebe, die
ich dir verkündige. Das Dasein der Liebe wird Blatt für Blatt völlig zerstört
von der Trunkenheit der Liebe selbst.
Um wahrhaft zu lieben, darf man keinen Hintergedanken haben; man muss bereit
sein, hundert Welten ins Feuer zu werfen;
man muss weder Glauben noch Unglauben kennen, weder Zweifel noch Zuversicht
hegen.
Wer auf diesem Weg wandelt, wird keinen Unterschied mehr erkennen zwischen Gut
und Böse.
Wo die Liebe ist, sind Gut und Böse entschwunden.
3. Das Tal
der Erkenntnis
وادی معرفت
Wenn die Sonne der Erkenntnis an der
Wölbung dieses Weges strahlt, den man nicht würdig zu beschreiben vermag, zeigt
sich in Klarheit das Geheimnis des Wesens der Dinge, und der feurige Ofen der
Welt wird zum Blumengarten. Der Wandrer wird die Mandel unter ihrer Schale
schauen. Er wird sich selbst nicht mehr erblicken, nichts mehr wird er erblicken
als seinen Freund allein; in allem, was er sehen wird, wird er sein Antlitz
schauen, in jedem Atom die Sphäre des Alls; unterm Schleier wird er zahllose
Heimlichkeiten betrachten, die leuchten wie die Sonne...
Die sichtbare Welt und die unsichtbare Welt sind für die Seele nichts; der
Körper ist der Seele nicht verborgen, noch die Seele dem Körper. Bist du aus der
Welt ausgegangen, die nichts ist, dann findest du den Ort, der dem Menschen
bestimmt ist...
4. Das Tal der Selbstgenügsamkeit
وادی
استغناء
Dieses Tal ist nicht so leicht zu durchschreiten, wie du es in deiner Einfalt
glauben möchtest. Wenn auch das Blut deines Herzens sich in dieses Meer ergösse,
könntest du nur die erste Station erreichen. Und durchliefest du alle Straßen
der Welt, du fändest dich immer, wenn du drauf wohl achtetest, beim ersten
Schritt. In der Tat hat kein Wandrer das Ziel seiner Reise geschaut und die
Heilung seiner Liebe gefunden.
In diesem Tale darf niemand in der Untätigkeit bleiben, und nur in der Reife
darf man es betreten. Es ist nun an der Zeit zu handeln, anstatt in der
Ungewissheit oder in der Sorglosigkeit zu leben: erhebe dich also und
durchschreite dieses mühsame Tal, nachdem du deinem Geiste und deinem Herzen
entsagt hast; denn wenn du nicht dem einen und dem andern entsagst, treibst du
Vielgötterei und die sorgloseste der Vielgöttereien. Opfre also deinen Geist und
dein Herz auf dieser Bahn, sonst musst du verzichten, dir genügen zu können..
5. Das Tal
der Einheit
وادی توحید
Dies ist der Ort der Entblößung von allen
Dingen und der Einung. Alle, die in dieser Wüste das Haupt erheben, ziehen es
aus dem gleichen Kragen. Magst du auch viele Einzelwesen sehen, es gibt in
Wirklichkeit nur wenige, nein, es gibt eines nur. Da die Menge von Personen
wahrhaft nur eine ausmacht, ist diese vollkommen in ihrer Einheit. Was sich dir
aber als eine Einheit darstellt, das ist nicht verschieden von dem, was gezählt
wird. Da das Wesen, das ich verkündige, außer dieser Einheit und der Zahl ist,
lasse du ab, der Ewigkeit des Vordem und der Ewigkeit des Darnach nachzusinnen;
und da die beiden Ewigkeiten zerronnen sind, gedenke ihrer nicht mehr...
Wenn der Wanderer in dieses Tal eingetreten ist, verschwindet er wie die Erde
unter seinen Füßen. Er wird verloren sein, denn das einzige Wesen wird offenbar
sein. Er wird stumm sein, denn das einzige Wesen wird reden. Der Teil wird das
Ganze werden, oder vielmehr er wird weder Teil noch Ganzes sein. Es wird eine
Gestalt ohne Körper und Seele sein...
Was ist der Verstand? Er ist an der Schwelle des Tores geblieben, wie ein blind
geborenes Kind. Wer etwas von diesem Geheimnis gefunden hat, wendet das Haupt
vom Reiche beider Welten ab...
Das Wesen, das ich verkündige, ist nicht gesondert da; die ganze Welt ist dieses
Wesen; Sein oder Nichtsein, es immer dieses Wesen...
6. Das Tal
der Bestürzung
وادی حیرت
Auf das Tal der Einheit folgt das der
Bestürzung. Da ist man die Beute der Traurigkeit und des Stöhnens. Da sind die
Seufzer wie Schwerte; und jeder Hauch ist eine bittre Klage. Da ist nichts als
Weheruf, als Leid, als zehrende Glut; da ist Tag und Nacht zugleich, und da ist
weder Tag noch Nacht. Da sieht man von jedes Haares Ende, ohne dass es
abgeschnitten würde, das Blut tropfen...
Wie wird der Mensch in seiner Bestürzung weitergehen können? Er wird betäubt
werden und sich auf dem Wege verlieren. Aber der die Einheit im Herzen
eingegraben hat, vergisst alles und vergisst sich selbst. Wenn man ihm sagt:
»Bist du oder bist du nicht; hast du das Gefühl des Seins oder hast du es nicht;
bist du in der Mitte oder bist du am Rande; bist du sichtbar oder verborgen;
bist du vergänglich oder unsterblich; bist du das eine und das andere oder weder
das eine noch das andere; bist du du selbst oder bist du es nicht?«
wird er antworten: »Ich weiß nichts davon, ich bin dessen unkundig und ich bin
meiner unkundig. Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht in wen; ich bin weder
treu noch ungetreu. Was bin ich doch? Ich bin selbst meiner Liebe unkundig; ich
habe das Herz von Liebe voll und von Liebe leer zugleich« ...
Wer in das Tal der Bestürzung eintritt, der tritt in jedem Augenblick in einen
so großen Schmerz ein, dass er hinreichen würde, um hundert Welten zu betrüben.
Aber wie lange noch werde ich die Trübsal und die Wirrnis des Geistes ertragen?
Da ich verirrt bin, wohin werde ich gehen? Ich weißes nicht, aber möge es Gott
belieben, dass ich es wisse! . . .
7. Das Tal
der Auflösung und der Vernichtung
وادی فقرو
فنا
Es ist unmöglich, dieses Tal zu schildern.
Als sein wesentlicher Zustand ist anzusehen das Vergessen, die Stummheit, die
Taubheit und die Ohnmacht. Da siehst du in einem einzigen Strahl der Sonne die
Tausende ewiger Schatten verschwinden, die dich umgaben.
Wenn das Meer der Unendlichkeit seine Wogen zu regen beginnt, wie sollten die
Bilder dauern, die auf seiner Fläche gezeichnet waren? Diese Bilder sind die
gegenwärtige Welt und die kommende Welt. Wer erklärt, sie seien nicht, erwirbt
ein großes Verdienst. Wessen Herz sich in diesem Meere verloren hat, ist darin
für immer verloren und bleibt in der Ruhe...
Ein unreiner Gegenstand mag in ein Meer von Rosenwasser fallen, er wird in der
Nichtigkeit bleiben durch seine Eigenschaft. Aber wenn ein reines Ding in dieses
Meer fällt, wird es sein besonderes Dasein verlieren, es wird an der Bewegung
der Fluten teilnehmen; indem es gesondert dazusein aufhört, beginnt es schön zu
sein. Es ist und ist nicht. Wie kann dies geschehen? Es ist dem Geiste
unmöglich, es zu fassen...
Wer die Welt verlassen hat, um dieser Bahn zu folgen, findet den Tod, und nach
dem Tode die Unsterblichkeit...
Schlage den Mantel des Nichts um dich und trinke vom Becher der Vernichtung,
bedecke deine Brust mit der Liebe zum Dahinschwinden und setze den Burnus des
Nichtseins aufs Haupt. Stelle den Fuß ins Steigeisen des unbedingten Verzichtes
und treibe entschlossen dein Roß zum Orte, wo nichts ist. In der Mitte und außer
der Mitte, drunter, drüber, in der Einheit, umgürte deine Lenden mit dem Gürtel
des Entwerdens. Öffne deine Augen und schaue, tue blaue Augensalbe an deine
Augen. Wenn du verloren sein willst, wirst du es in einem Augenblick sein, dann
wieder auf eine andere Weise; aber du schreite ruhig, bis du zum Reiche der
Aufhebung kommst. Besitzest du nur das Ende eines Haares aus dieser Welt, wirst
du nie eine Kunde von jener Welt empfangen. Bleibt dir die kleinste Ichsucht,
werden die sieben Ozeane dir voll des Unheils sein...
Wirf alles was du hast ins Feuer, bis zu den Schuhen.
Wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt
ins Feuer...
Wenn dein Inneres im Verzicht gesammelt sein wird, dann wirst du jenseits von
Gut und Böse sein. Wenn es für dich weder Gut noch Böse geben wird, dann erst
wirst du lieben, und du wirst endlich würdig sein der Erlösung, die das Werk der
Liebe ist.
Was mich betrifft, der ich weder ich noch ein andrer als ich geblieben bin, ich
habe mich ganz verirrt, weithin von mir; ich finde in meinem Zustande kein
andres Heil als die Verzweiflung. Als die Sonne der Auflösung über mich
leuchtete, verbrannte sie beide Welten so leichtlich wie ein Hirsekorn. Als ich
die Strahlen dieser Sonne sah, hin ich nicht gesondert geblieben: der
Wassertropfen ist ins Meer zurückgekehrt. Ob ich auch in meinem Spiele zuweilen
gewonnen und zuweilen verloren habe, zuletzt warf ich alles in das schwarze
Wasser. Ich bin ausgewischt worden, ich bin verschwunden; nichts ist von mir
geblieben. Ich war nur noch ein Schatten, kein kleinstes Stäubchen war von mir
da. Ich war ein Tropfen, im Ozean des Mysteriums verloren, und jetzt finde ich
auch diesen Tropfen nicht mehr.
S.86ff.
Aus: Sloterdijk (Hrsg.): Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker gesammelt
von Martin Buber
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